wie wahrscheinlich viele hier bin ich auf der Suche nach Hilfe für mein Problem mit Jay.
Aber bevor ich zur eigentlichen Schilderung komme, erzähle ich am besten erstmal alle Begleitumstände...
Seit September habe ich nun endlich eine Arbeitsstelle gefunden, die es mir ermöglicht, einen Hund zu halten (4,50 Std. am Tag). Nun zuerst die Überlegung: Was für einen Hund? Verträglich soll er sein, keinen (kaum) Jagdtrieb haben (soll später Reitbegleithund werden), mittelgroß, kein Welpe...Rassehund kam auf keinen Fall in Frage. Also bin ich auf einen Tierschutzverein gestossen, der Hunde aus polnischen Tierheimen nach Deutschland vermittelt. Nach vielen Gesprächen und auch Besuchen habe ich mich für Jay entschieden. Die Beschreibung war zwar mehr als dürftig, entsprach jedoch meiner Meinung ´nach dem Hund, den ich haben wollte.
"Jay ist ein sehr verträglicher und eher ruhiger Rüde, der sich nach mehr Aufmerksamkeit sehnt und gut in eine nette Familie passen würde." Über seine Vorgeschichte weiß ich leider GARNICHTS.
Ende Dezember kam er dann auch endlich aus Polen an (der erste Schreckmoment: "Der hat ja gar keine Rute!?!", wahrscheinlich kupiert, schnüff)) und hat sich bis Mitte Januar vorbildlich verhalten. Von Anfang an stubenrein, kein Gebell, sofort mit Katzen verstanden, ok, an der Leine laufen und Kommandos müssen noch geübt werden, aber mehr kann ich von einem Hund in einem fremden Land, bei einer fremden Bezugsperson auch schliesslich nicht erwarten. Das alles bekommen wir auch mit Schleppleinentraining bisher auch ganz gut hin. In der Wohnung, beim Zusammenleben mit den Katzen gibt es auch bis heute kein einziges Problem.
Auch gegenüber Artgenossen hat er sich bis Mitte Januar eher wie ein Junghund verhalten, weshalb ich auch vermute, dass er jünger ist, als angegeben. Sehr aufgeschlossen und neugierig. Man merkte mit der Zeit auch, wie er sich immer besser eingewöhnte und aufblühte. Nur ohne (Schlepp-)leine bin ich bisher nicht mit ihm spazieren gewesen, was aber recht gut funktioniert.
So, jetzt das eigentliche Problem: Während er aufblühte, hob er sein Bein beim Markieren immer höher und höher und kippte auch fast um dabei (ich dachte sofort: Hüftproblem? Aber nein...Kettenhund => Keine Muskulatur? Keine Ahnung...)Auch das Scharren und machohafte Brummeln dabei wurde immer mehr. Mitte Januar fing er auch auf einmal an, andere Hunde von weitem zu fixieren und beim Näherkommen zu knurren. Ok, er ist ein unkastrierter Rüde und wir Menschen mögen ja auch nicht jeden, alles noch im grünen Bereich.
Doch bei einer Schnupperstunde in der Hundeschule fing es dann richtig an. Alles hatte vorher einwandfrei geklappt, er hatte sehr viel Spaß und war sehr lernwillig, wollte gefallen und ich war total stolz. Doch beim gemeinsamen Freilauf/ Spielen lassen lief er die erste Zeit eher rum wie Falschgeld, markierte das gesamte Gelände und wusste anscheinend nicht so recht, wie er Kontakt zu anderen Hunden aufnehmen sollte. Nach ein paar Minuten fixierte er dann einen ziemlich großen Golden Retriever Rüden (18 Monate) und ging auf ihn los, ohne für uns und den Trainer erkennbaren Grund. Das passierte kurz darauf noch einmal mit einer großen Collie-Schäferhund Hündin, als sie beim Begleithundetraining Slalom durch alle Hunde und Besitzer laufen sollte. Er griff sie ohne Vorwarnung diesmal an (ok, das kann man noch unter die Rubrik "Unterschreitung der Individualdistanz" packen), beide waren jedoch an der kurzen Leine, weshalb nichts passierte. Ich sollte Jay dann auf die Seite legen, Hand auf seine Schulter und den angegriffenen Hund an ihm schnuppern lassen, bis er sich entspannt. Klappte auch, nur habe ich ihn dann nicht mehr von der Leine gelassen, weil mir die ganze Kiste zu riskant war.
Bei den darauffolgenden Spaziergängen wurde das fixieren immer stärker und ich arbeite seitdem mit Leckerchen, wenn ein Hund kommt, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen (Kommando Schau). Klappt auch ganz gut, nur an andere Hunde wollte ich ihn nicht mehr ranlassen, bis ich das Problem genau erkennen konnte (kann ich ja bisher immer noch nicht wirklich).
Bei einem Spaziergang eine Woche später kam uns ein freilaufender Hund (Cockerspaniel Mix?)hinterher, Herrchen nicht in Sicht und kam in Jays Nähe. Ich hab mich zwar dazwischen gestellt, konnte aber auch nix ausrichten. Jay verbiss sich direkt in seinen Nacken und ließ nicht los. Ich versuchte, Jay an der Leine weg zu ziehen, zog jedoch den anderen Hund mit weg, weil Jay sich so festgebissen hatte. Gottseidank ist nichts Schlimmeres passiert. Ein paar Tage später hatte ich ein recht gutes Gefühl und fragte eine entgegenkommende Besitzerin, ob die beiden Hunde sich kontrolliert begegnen dürften, beschrieb ihr aber auch vorher meine Erfahrungen mit Jay. Dieser schnüffelte zuerst an dem anderen Hund, alles sah gut aus. Dann wieder, ohne Vorwarnung, hat er sich in den Hinterbacken des anderen Hundes festgebissen, es ist aber trotzdem und gottseidank auch nichts Schlimmeres passiert. Das war letzten Freitag.
An der Leine und beim Vorbeigehen an anderen Hunden macht er kein Spektakel, er steht ganz ruhig neben mir, die Leckerchen Konditionierung hat Früchte getragen, nur lasse ich ihn nicht mehr näher als 2m in die Nähe anderer Hunde, damit nicht doch noch etwas Schlimmes passiert und weiß nun nicht, wie ich an dem Problem vernünftig arbeiten kann. Er pöbelt zwar noch etwas (die Duftmarke wird ein paar Meter weiter verstreut, als wenn keine Hunde in der Nähe sind), aber von Leinenaggression kann gar keine Rede sein.
Mir fällt auch zum Verrecken keine Schlüsselsituation ein, weshalb er sich auf einmal so gewandelt hat. Es gab keinen Angriff von anderen Hunden etc... Ich hoffe, die Geschichte war nicht allzu lang, aber ich denke, man muss auch die Begleitumstände kennen, um ein Verhalten zu interpretieren...
Ich finde, für die paar Wochen, die Jay erst bei Dir ist, hast Du schon sehr viel erreicht!
So ganz viel kann ich zu eurem Problem nicht sagen, da ich hier nicht zu den Expertinnen gehöre. Was mir aber spontan einfiel: Hast Du schon mal überlegt, Jay einen Maulkorb anzutrainieren? Dann könntest Du bei Hundebegegnungen auch wieder ruhiger werden, da ja im "Ernstfall" nichts passieren kann.
******************** Viele Grüße, Steffi mit Bendo - und Pina, Einstein, Tovje und Treff im Herzen
"Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann." (Francis Picabia, 1922)
Danke, danke...ich merke auch, dass die Verbindung zwischen uns beiden immer stärker wird, obwohl er ja schon recht "alt" für eine neue Bezugsperson ist und sehr selbstständig.
An Maulkorbtraining hatte ich auch schon gedacht, doch wie wird das richtig gemacht?
Das mit der Hundevermittlung aus Polen kommt mir sehr bekannt vor. Ich habe auch eine Hündin, Tola, aus einem polnischen Tierheim. Von der Tierschutzorganisation wurde sie auch als sehr menschenbezogen beschrieben. Bei uns zu Hause entpuppte sie sich dann fremden Menschen gegenüber ( und dazu zählten auch mein Mann und meine ältere Tochter ) als extrem misstrauisch. Nicht falsch verstehen, ich würde sie trotzdem immer Wieder nehmen denn sie ist auch ein kleiner Schatz. An diesem Problem arbeiten wir, auch mit Hilfe von der .
Das Problem mit dem Verbeissen kenne ich von meinem Jack-Russell-Terrier Lucky. Lucky habe ich seit er 3 Monate alt ist. Zuerst hat er sich mit allen anderen Hunden vertragen. Dann, als er geschlechtsreif wurde, mochte er manche Rüden nicht. Es steigerte sich auch so ganz langsam. So richtig schlimm wurde es aber erst als Tola zu uns kam. Mit ihr versteht er sich prima aber mit anderen Hunden ist es seitdem viel schlimmer geworden. Bei ihm ist es auch so, dass er sich in manche Hunde verbeisst und nicht loslässt. Das macht er nicht bei allen aber man ist sich ja nie sicher wann er es wieder tut. Auch das ist ein Problem, welches wir seit Kurzem zusammen mit Barbara angehen.
Für Lucky habe ich jetzt erst einmal einen Maulkorb besorgt, so dass man mit einem ruhigerem Gefühl an Hundebegegnungen herangehen kann. Allerdings muß ich mit Lucky erst einmal eine Maulkorbgewöhnung machen bevor wir ihn richtig nutzen können.
Du wirst hier bestimmt viele wertvolle Tipps für Jay bekommen.
Ich finde auch, dass ihr auf einem guten Weg seid! Bei uns kam das komische Verhalten gegenüber anderen Hunden auch ziemlich plötzlich. Was ich vorher einfach nicht so mitbekommen habe, war das Lumpi extrem unsicher war bei anderen Hunden.
Viele liebe Grüße Frau T.mit Lumpi,Mo undNils __________________________________________________________________________
Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch. Karl Valentin
hmmm, hmm, hm...hab mich grad mal schlau gemacht und auch den Beitrag über Maulkörbe gelesen. Also, im Prinzip wäre also ein Plastikmaulkorb das Richtige für uns. Nur die Sache mit dem Abstreifen können irritiert mich noch ein wenig. Weil es bei fast allen angebotenen Plastikmaulkörben keinen Riemen für über den Kopf gibt und ich hab Schiss, dass Jay sich den in krassen Situationen abstreift.
Habe aber einen Maulkorb von Baskerville gefunden, der so ein Ding hat. Er hat nur eine grauslige Farbe^^ Kennt den jemand von euch und hat Erfahrungen damit? Mit der Farbe müsst ich mich dann halt anfreunden...oder halt nen anderen "modifizieren"
Jetzt noch ne Frage zu Begegnungen: Am besten dann einen lieben Hund "auswählen", der sich wahrscheinlich nicht wehrt oder die Ruhe weg hat und austesten, oder wie?
Auch von mir zuerst mal weil Du schon so viel erreicht hast und Dir so viel Mühe gibst! Ich bin kein Experte, aber wir haben ja fast alle so manches durch.... und langsam Erfahrungen gesammelt.
Zuerst finde ich, dass Du alles vielleicht noch etwas ruhiger angehen solltest. Er ist ja erst 6 Wochen bei Dir wenn ich das richtig gelesen habe. Die Beschreibungen aus den polnischen und sicher vielen anderen ausländischen Th kann man unmöglich für bare Münze nehmen. Die Hunde sind dort ja unter extremen Bedingungen untergebracht und zeigen oft ein völlig anderes Verhalten.
Er ist ja jetzt in eine völlig andere Welt katapultiert worden. Oft sind das dort Ketten- oder Hofhunde die wirklich nix kennen.
Jedenfalls würde ich Jay vorerst nicht mehr unangeleint zu anderen Hunden lassen. Das muss er nicht unbedingt haben und das Risiko wäre mir zu groß. Mein "Langzeitknasti" hat anfangs genauso reagiert. In der Hundeschule ging es nur mit Halti. Heut weiß ich dass ihn das völlig überfordert hat obwohl wir erst nach einem Vierteljahr damit begonnen haben.
Ich lasse ihn auch heut noch ungern zu anderen Hunden. Weil er unberechenbar reagiert und für mich oft auchg nicht zu erkennen ist dass er jetzt drauflos geht. Er ist aber sehr unsicher. Aber es ist vieeel besser geworden seit er begriffen hat, dass ich in der Lage bin das zu regeln. Und das kann Jay in der kurzen Zeit noch gar nicht. Maulkorb finde ich auch gut und schau Dir mal das Pendeln an. Leider bin ich zu blöd das zu verlinken.
Geh das ganz ruhig an und überleg Dir ob Du ihn kastrieren lässt. Muss aber keine Garantie für besseres Sozialverhalten bedeuten. Aber das Machogehabe kann sich natürlich etwas geben...
Es grüßen Margit, Tom und Cora ....................................................
"Das Wenige, das Du tun kannst, ist viel!" (Albert Schweitzer)
Zu Deinem Problem erstmal nur ein paar Gedanken, letztlich muß ich Dir, wie allen, die hier Rat suchen, natürlich sagen, daß eine wirklich fundierte Beurteilung nur möglich ist, wenn der Beurteilende a) Deinen Hund und b) Dich und c) Dich zusammen mit Deinem Hund erleben würde.
Was mir fehlt ist die Angabe zu Jays Alter. Wie alt ist er?
Was mir auffällt, sind grundlegend zwei Dinge. Zum einen, daß Du zwar mit Leckerchen und "schau" arbeitest, mit einer Ablenkung aber keine Verhaltensänderung erreichen wirst. Soll heißen: Jay müßte eigentlich lernen, den Kontakt zum anderen Hund (was auch meint: Blickkontakt) positiv zu erleben. Was Du ihm beibringst, ist: "Es kommt ein anderer Hund, ich soll weggucken, der ist bestimmt irgendwie sonderbar." Denn von sich aus würde ein Hund nie so blöd sein, den Artgenossen, der ja nun einmal auf ihn zukommt, aus den Augen zu lassen, es ist einfach widernatürlich, denn so hat der "Feind" viel zuviele Chancen, unbeobachtet womöglich Gefährliches auszuhecken oder das Mädel oder die Ressource Futter oder sonst etwas Wichtiges in Besitz zu nehmen.
Woraus auch die zweite große Gefahr einer reinen Ablenkungsstrategie resultiert. Nicht nur lernt Dein Hund falsche Verbindungen, er hat auch keine Chance mehr zu abgestuftem Verhalten. Ein aggressives Ritual beginnt in aller Regel in relativ weiter Entfernung, es wird gemustert, gecheckt, vielleicht schon mal fixiert. Diese Möglichkeiten hat Jay aber nicht, wenn sich der andere zwar nähern, er aber nicht handeln kann. Im schlimmsten Fall steht der andere, wenn der Deine Absicht, Jay abzulenken, nicht versteht, für Jay irgendwann überraschend vor Euch und ist viel zu nahe, um noch ein Ritual ablaufen zu lassen. In solchen Fällen ist Jay quasi gezwungen, einige Stufen zu überspringen und gleich offensive Abwehr zu zeigen.
Ich würde Dir also dringend raten, Jay nicht abzulenken, sondern eine Gegenkonditionierung zu versuchen. Diese sollte damit einhergehen, daß Du versuchst, Deinem Hund in den richtigen Situationen Sicherheit und das Gefühl zu geben, daß DU Kontakte kontrollierst. Und das wirst Du, und hier liegt mein größtes Problem, nicht schaffen, indem Du ihn auf die Seite legst, ihn runterdrückst, den anderen ihn zwangsbeschnuppern läßt und glaubst, Jay könnte sich in so einer Lage überhaupt entspannen. Sorry, aber das MUSS ihm unmöglich sein, denn das, was Du da tust, ist Deinen Hund völlig hundlich kommunikationsunfähig zu machen und ihm dann in gewissem Sinne Gewalt antun zu lassen. Denn der Akt des Beschnupperns ist im Hundereich ein nicht weniger kommunikativer als ein aggressives Ritual. Mit dem Schnüffeln und Umkreisen werden Grenzen gesetzt und Beziehungen geklärt. Greifst Du da ein und nimmst Deinem Hund diese Chancen, hat er de fakto keine andere Wahl als sich eine neue Erfolgsstrategie zu suchen, da ihm die alte ja keinen Erfolg bringt. Und das bedeutet aus hundlicher Sicht logisch leider: Jay MUSS stärker aggressiv sein, damit er den anderen, der ihn in die Hilflosigkeit zwingt, loswerden kann. Im schlimmsten Fall kriegst beim nächsten Mal Du Blessuren ab, denn Du bist diejenige, die Jay daran hindert, mit milderen Mitteln seine Ziele zu erreichen.
Verstehe das nicht als Vorwurf. Es ist keiner. Ich möchte nur versuchen, Dir die Spiralen, die Du durch ein aus hundlicher Sicht idiotisches menschliches Verhalten womöglich in Gang setzt. Es geht hier um die Klärung der Frage, warum Jay sich verhält, wie er sich verhält, und was Du möglicherweise tun kannst, um sein "Vorwarnsystem" wieder in Gang zu setzen.
Sabine hat Dir ja bereits von ihren Probleme mit Lucky erzählt. Mit ihm hatten wir kürzlich eine Situation, die ähnlich aussah, wie das, was Du hier beschreibst. Und glaub mir, Lucky HATTE gewarnt. Lange. Reichlich. Nur, daß der andere Hund schlicht nicht darauf hörte und frontal immer näher kam. Unaufhaltsam. Es sieht dann sicher nicht schön aus, was Lucky dann macht, auch er packt dann ganz ordentlich zu. Faktisch aber war sein Handeln aus hundlicher Sicht folgerichtig und normal. Lucky hatte sein Hunde-Mädel neben sich, seine Menschen taten nichts, und ich schaffte es nicht schnell genug, den anderen aufzuhalten, weil der blöderweise keine Leckerchen nahm und sowohl meine, als auch Bens, Warnsignale schlicht ignorierte. Ich hätte ihn nur noch genauso im Fell packen können, wie Lucky das dann tat, und ehrlich gesagt, wollte ich das mit einem fremden Hund nicht tun.
Von daher: Frage Dich, ob das Verhalten von Jay wirklich das Problem ist oder wir hier vielleicht nur über einen unkastrierten Rüden, der für alle anderen nach Testosteron stinkt, der alle anderen Rüden als Konkurrenten empfinden MUSS und der auf hundliche Signale, die die anderen senden, die Du aber vielleicht nicht siehst oder verstehst, einfach nur wie ein ganz normaler Hund reagiert, der lernen müßte, daß normales hundliches Verhalten in dieser unserer menschlichen Gesellschaft SO eben nicht sanktioniert ist und der entsprechend durch Dich tragfähige Alternativen vermittelt bekommen müßte, statt daß Du einfach nur sein instinktives Verhalten blockierst und damit die Aggressionsschraube leider mehr oder minder zwangsläufig hochdrehen wirst.
Ich glaube, was wirklich vonnöten wäre, wäre ein Trainer, der nicht gleich "Dominanz" brüllt, wenn ein Rüde sich wie ein Rüde verhält, der danach fragt, wie sicher oder unsicher ein Hund, der gerade mal drei Monate in Deutschland ist und der hier noch nichts kennt und zu Dir, und das meine ich nicht böse, es ist nur einfach rein zeitlich gesehen so, noch gar nicht genug Vertrauen haben kann, um sich so zu verhalten, wie Du es brauchen würdest, um mit ihm klarzukommen. Jay weiß doch noch gar nicht, was von ihm erwartet wird, geschweige denn, daß er es umsetzen könnte, wenn er es wüßte.
Was zu überlegen wäre, um ihm zu helfen, wäre meiner Meinung nach auf jeden Fall eine Kastration. Daß das bei einem Auslandshund nicht gemacht worden ist, wundert mich eh schon sehr. Wobei es mir jetzt gar nicht darum geht, daß Du damit bei Jay eine automatische Verhaltensänderung bewirken könntest, sondern eher darum, daß Du ihm zwei Stressoren nehmen könntest. Zum einen müßte er nicht sämtliche Rüden um sich herum als Konkurrenten wahrnehmen, zum anderen aber würde er für die anderen anders "duften", womit DIE sich IHM gegenüber weniger aggressiv verhalten könnten, weil ER FÜR SIE keine Konkurrenz mehr wäre.
Ansonsten, wie gesagt, fände ich es am Wichtigsten, daß Du bitte auf keinen Fall in die berüchtigte Dominanzfalle tappen solltest. Bitte mach es nicht, wenn Dir ein Trainer rät, Deinen Hund auf die Seite zu legen und ihn zwangsbeschnüffeln zu lassen. Denn das ist garantiert alles, nur ganz sicher keine vertrauensbildende Maßnahme zwischen Dir und Deinem Hund und/oder zwischen Deinem Hund und anderen Hunden.
Viele Grüße Barbara mit Ritter Parcifal, Prince Maddox und Sir Lancelot sowie in ewiger Verbundenheit mit Malibub Athos, Seelenbub Ben, Spitzbub Ilias, Lausbub Seppl und 'dame de coeur' Lupa (G'lupa de la Noire Alliance)
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"Just a generation ago if you went near a dog when he was eating and the dog growled, somebody would say, 'Don't go near the dog when he's eating!, what are you crazy?' Now the dog gets euthanized. Back then, dogs were allowed to say, NO. Dogs are not allowed to say no anymore...They can't get freaked out, they can't be afraid, they can never signal 'I'd rather not.' We don't have any kind of nuance with regard to dogs expressing that they are uncomfortable, afraid, angry, or in pain, worried, or upset. If the dog is anything other than completely sunny and goofy every second, he goes from a nice dog to an 'AGGRESSIVE' dog." (Jean Donaldson)
Zitat von ElektraLucky hatte sein Hunde-Mädel neben sich, seine Menschen taten nichts
Dazu habe ich jetzt einmal kurz eine Frage. Was hätte ich in so einem Fall am besten tun sollen? Wenn ich mich vor Lucky stelle, dann versucht er in so einem Fall ja an mir vorbei zu kommen. Wie wäre da die richtige Vorgehensweise gewesen?
Ich fühle mich auf keinen Fall angegriffen, wenn man mit mir Tacheles redet. Geschwafel hebe ich mir für meinen Erzieherjob auf ;) Ich will ja schliesslich wissen, was ich falsch und besser/anders machen könnte.
Also wenn ich das richtig verstehe, dann habe ich praktisch durch dieses "auf-die-Seite-legen" alles nur noch verschlimmert und das war praktisch das Schlüsselerlebnis, weshalb Jay nun keine für mich erkennbaren Warnzeichen mehr gegenüber anderen Hunden gibt? hm, logisch klingt das für mich schon, ich kann es auch nachvollziehen. Vielleicht habe ich es deshalb intuitiv seitdem auch nie mehr angewendet, wenn so etwas passierte.
Jetzt aber noch eine Sache: Ich habe bisher nicht herausgefunden, ob es nun NUR an Rüden liegt oder nicht, denn er hat ja in der Hundeschule auch auf eine Hündin aggressiv reagiert. Auch ein bestimmtes "Hundeschema" konnte ich noch nicht herausfinden.
Um sein Verhalten noch ein wenig transparenter zu machen: Heute habe ich eine ältere Dame mit einem Jack-Russel getroffen, der ich auch schon öfter begegnet bin. Ihr Hund ist für mich das Paradebeispiel für Leinenaggression schlechthin. Macht den Larry ohnegleichen gebärdet sich wie ein Monster. Ich mir natürlich gedacht: "Komm, unterhalte dich mal mit der Dame auf Entfernung und tu so, als ob nichts wär."
Der Kleine hat sich auch die meiste Zeit wie ein Wahnsinniger aufgeführt und Jay blieb ganz ruhig an meiner Seite, ohne, dass ich etwas tun musste, ich stand praktisch zwischen ihm und dem Hund und hab mich an keinem Hund gestört (ich liebe meine Geduld, durch die Jungpferdeausbildung ). Jay hat den Kleinen zwar angeschaut, aber nicht zum Angriff angesetzt. Ich hatte aber das unterschwellige Gefühl, dass er den anderen "fressen" würde, sobald ich ihn an ihn ranlassen würde.
Wie kann ich das jetzt interpretieren? Habe ich mich in dieser Situation richtig verhalten und ist es das, was du meintest mit:
Zitat von Elektra Ich würde Dir also dringend raten, Jay nicht abzulenken, sondern eine Gegenkonditionierung zu versuchen. Diese sollte damit einhergehen, daß Du versuchst, Deinem Hund in den richtigen Situationen Sicherheit und das Gefühl zu geben, daß DU Kontakte kontrollierst.
Wie erreiche ich denn sonst noch eine Gegenkonditionierung?
Aber erstmal ein RIESENDANKESCHÖN für die ausführlichen Antworten!
Erstmal zu Dir, Sabine: Solche Situationen sind verdammt schwer zu regeln. Das Problem ist ja, daß Du quasi "nur" aus hundlicher Sicht das Falsche bzw. nichts tust, aus Deiner aber sehr wohl den Versuch gemacht hast, das Ganze in den Griff zu kriegen, indem Du Dich ja bereits entfernt und mich und die Jungs dabei hattest. :-)
Bleiben wir allgemein: Grundsätzlich würde ich zunächst den Halter immer bitten, seinen Hund zu rufen und anzuleinen. Wie oft das nicht klappt, wissen wir. Auch in diesem Fall kam der Herr ja nicht einmal auf die Idee, aus dem Umstand, daß Du mit Deinen beiden schon mitten im Wald standest und meine beiden fein säuberlich am Wegesrand abgelegt waren, den Schluß zu ziehen, daß sein Vierbeiner vielleicht nicht unbedingt ungebremst in die gesammelten Hundewerke brettern sollte.
Ich versuchte dann das, was ich als Zweites immer raten würde: Die eigenen Hunde sichern und den Versuch machen, den Fremdling "abzufangen". Hier aber beginnt die Crux. Was, wenn das alternative Verhalten (bei uns: das "Platz") noch nicht gefestigt genug ist? Was, wenn der andere Hund, wie ja in diesem Fall mehr als deutlich gehabt, weder für die menschlichen Kursänderungsüberredungsversuche empfänglich ist, noch die in dieser Situation ja sogar zusätzlich vorhandene Hundemauer (Ben und Seppl lagen ja VOR Euch) ihn aufhält?
Die Antwort kann wohl nur lauten: 1) Alternatives Verhalten so schnell und effektiv wie möglich festigen und 2) lernen, daß manchmal der dumme Satz "shit happens" leider seine Berechtigung hat. Und dann kann man nur noch zweierlei tun: Wegrennen und hoffen, daß der eigene Hund mitmacht oder die Leinen lösen, um den Hunden wenigstens ihre kommunikativen Mittel zur Verfügung zu stellen, die an der Leine ja bereits gehemmt sind, weil eine Flucht nicht wirklich möglich ist, wenn der Mensch sie nicht einleitet/mitmacht.
Ich erlebe mit Ben mittlerweile nur noch wenige Situationen, die wirklich blöd laufen, weil sein alternatives Verhalten wirklich trägt. Er hat die Sprache "hündisch" gelernt, er vertraut mir und will meistens gar nichts mehr regeln, und wenn er es wirklich nochmal muß, schießt er nicht mehr über das Ziel hinaus, weil er nicht mehr alles als lebensbedrohlich wahrnimmt, was für ihn früher einfach nicht abgestuft zu händeln war.
Es liegt viel Geduld und Willen, den Hund verstehen und beschützen zu wollen, darin, daß wir gerade eben eine Begegnung hatten, die genau davon zeugt.
Ben hat ein Feindbild, das immer da ist, auch wenn seine Vorgehensweise sich geändert hat. Er kann große, unkastrierte, fixierende und demonstrativ markierende Rüden nicht leiden. Das Aufeinandertreffen mit "so einem" war für ihn früher das Signal zu einer ungebremsten, in meiner Wahrnehmung völlig ohne Vorwarnung stattfindenden Attacke mit Beschädigungsabsicht. Davon einmal abgesehen, daß ich heute behaupte, daß diese Wahrnehmung falsch war, weil ich schlicht die Warnungen nicht verstand, die beide Kontrahenten sehr wohl zeigten, hat sich Bens Vorgehen insgesamt dahingehend verändert, daß er im Normalfall gar keinen Impuls mehr hat, den Konkurrenten zu vertreiben, wenn der nicht wirklich provoziert, indem er zum Beispiel mit fixierendem Blick dauermarkiert und das direkt unter Bens Nase.
Ganz konkret, war es heute der Erzfeind der ersten Stunde, Großpudel Romeo, seines Zeichens genauso Macho wie sein italienisches Herrchen, der versinnbildlichte, WAS sich verändert hat.
Ende 2006 sah die Begegnung so aus: Romeo lief in ca. 100 Metern Entfernung durch den gleichen Wald wie Ben. Der nahm das wahr und wollte losstürzen. Meine Taktik damals bestand darin, Ben nie im Freilauf zu haben und in den Fällen, in denen er durchstartete, einen Baum zu suchen, an dem ich das sich wie eine wilde Bestie gebährdende Ungeheuer anbinden konnte, bis der "Feind" den Wald verlassen hatte. Früher war ein Weitergehen nicht möglich. An diesem Tag allerdings passierte die Katastrophe. Der angebundene Ben war so aggressiv und voller Kraft, daß die Lederleine riß. Ungebremst raste er auf Romeo zu und verbiß sich in dessen Fell. Romeo wehrte sich, es entbrannte ein wilder Kampf, heute weiß ich, er war laut, aber vermutlich damals schon sich schlimmer anhörend als seiend. Romeos Herrchen schien das damals genausowenig zu wissen wie ich und nahm einen Ast, mit dem er auf Ben einprügelte. Was er erreichte, war klar, Ben wurde immer aggressiver. Irgendwann gelang es mir, den Ast zu erwischen, wegzuwerfen, Ben zu greifen und die beiden Kämpfer zu trennen. Verletzt war keiner, geschockt waren alle.
Von da an übte ich mit Ben, der Weg ist bekannt, er dauerte lange, führte über den Aufbau einer Beziehung zwischen Ben und mir über Clickertraining und viel Vertrauen, Ruhe und Geduld bis hin dazu, daß Ben soziales Verhalten in jeder Hinsicht erlernte. Romeo jedoch blieb sein rotes Tuch. Er sah ihn und keifte. Er sah Romeos Herrchen und fletschte.
Im Lauf der Zeit schaffte ich es, den Abstand, den er ertragen konnte, ohne auszurasten, zu verringern, doch es blieb dabei: Er wollte die beiden fressen, wenn er ihrer ansichtig wurde.
Vorhin gingen wir durch die menschenleere Innenstadt, die bei den jetzigen Witterungsverhältnisse die einzige Chance auf einen unfallfreien Spaziergang bietet, entsprechend sind die wenigen Hunde, die unterwegs sind, offline, schon, weil auch in der City viele Wege vereist sind und ein offline-Hund nicht ziehen kann. :-)
Wir waren fast wieder am Auto, als Ben versteifte. Er duckte sich und fixierte und ich sah: Romeo. Ebenso offline und sehr, sehr nah. Ich stand und sagte in aller Seelenruhe: "Click. Click. Click." Ich war total ruhig, klang aber wie ein Idiot. Ben schlich näher, aufzuhalten war er nicht. Die Stimmung aber konnte ich verbessern. Die beiden Erzfeinde standen mit hochgereckten Ruten voreinander. Ben wandte sich ab, wollte zu mir. Und Romeo? Mußte die gelben Säcke markieren und direkt vor Bens Nase das Bein heben. Ben knurrte, keifte einmal, Romeo keifte zurück, Ben drehte sich weg, buckelte, schaute mich an und kam zu mir. Romeos Herrchen kam, ich rief: "Ganz ruhig, kein Problem." Er sagte: "Nicht dazwischengehen." Wir waren uns nie einiger. :-)))
Romeo stiefelte weiter. Ben stand und igelte. Romeo fand die nächsten gelben Säcke. Ben knurrte, stand aber. Romeos Herrchen machte Bewegungen mit den Armen auf Ben zu. Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich hörte mich sagen: "Alles ist gut, Ben." Und: "Click." Und Ben? Igelte, drehte bei und hörte das Glück von Romeos Herrchen, der mich daran erinnerte, wie die Begegnung "damals" ausgesehen hatte und wie stolz ich auf Ben sein könne. Ich lobte Romeo. Wir sagten "Ciao", und das war es dann. Ben folgte mir, mit noch höherer Rute als vorher. Er war stolz auf sich. Sichtlich. Und Seppl machte seiner Erleichterung Luft, indem er Ben bellend zu Spiel aufforderte.
Und das eben ist es, was ich mit dem Aufbau wirklich tragenden, alternativen Verhaltens meine. Die Situation war nicht händelbar. Romeo tauchte viel zu überraschend auf, sein Herrchen war nicht einmal in der Nähe, und Romeo verhielt sich aggressiv, indem er Bens aggressive Ansage (Drohfixieren, abgeducktes Anschleichen) nicht beschwichtigend quittierte, sondern Bens schon eingeleiteten Rückzug pinkelnderweise mehr oder minder zwangsläufig abbrach. Du hast dann als Mensch IN DIESEM MOMENT keinerlei Chancen mehr. Wenn Du da nicht vorher Verhalten so gefestigt hast, daß es auch in dem größten Streß in einem Teil des Gehirns verfügbar ist, das dem Bewußtsein nicht zugänglich ist, hast Du verloren. Und genau deshalb müssen wir soviel "im Trockendock" üben. Wir müssen das neue Verhalten so fest verankern, daß es das alte Schema wirklich ersetzt.
Was für Dich bzw. für Dich und Lucky und Tola heißt: Lucky muß lernen, daß ein anderer Hund, egal, wie und wie nah er sich nähert, keine Bedrohung darstellt. Das geht, indem er zunächst mal lernt: Anderer Hund = Hinlegen und Frauchen regeln lassen (wobei das Hinlegen auch ein anderes Verhalten sein kann, das hängt dann davon ab, was der jeweilige Hund am besten annehmen kann). Das wiederum geht nur, wenn er genug Vertrauen in Deine Fähigkeit, zu regeln, erwerben kann, das nur entsteht, wenn Du oft genug erfolgreich klärst, was zu klären ist. Das ist der eine Strang. Der andere liegt darin, daß das innere Etikett, das Lucky im Moment für kleine Artgenossen vergeben hat, verändert werden muß. Es bedingt hier einfach das eine das andere: Wenn er sie nicht mehr als Bedrohung und/oder Beute wahrnimmt, wird ihm das alternative Verhalten sowie das Vertrauen zu Dir leichter fallen, je öfter er mit dem alternativen Verhalten und dem Vertrauen Erfolg hat, desto öfter wird er beides zeigen können und desto weniger werden andere Hunde ihn bedrohen.
Fazit: Im konkreten Fall gab es wenig Chancen, zu verhindern, was passiert ist. Im nächsten Fall wird es einige mehr geben, weil Lucky bis dahin wieder ein bißchen mehr gelernt hat und Du natürlich auch. :-)
Viele Grüße Barbara mit Ritter Parcifal, Prince Maddox und Sir Lancelot sowie in ewiger Verbundenheit mit Malibub Athos, Seelenbub Ben, Spitzbub Ilias, Lausbub Seppl und 'dame de coeur' Lupa (G'lupa de la Noire Alliance)
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"Just a generation ago if you went near a dog when he was eating and the dog growled, somebody would say, 'Don't go near the dog when he's eating!, what are you crazy?' Now the dog gets euthanized. Back then, dogs were allowed to say, NO. Dogs are not allowed to say no anymore...They can't get freaked out, they can't be afraid, they can never signal 'I'd rather not.' We don't have any kind of nuance with regard to dogs expressing that they are uncomfortable, afraid, angry, or in pain, worried, or upset. If the dog is anything other than completely sunny and goofy every second, he goes from a nice dog to an 'AGGRESSIVE' dog." (Jean Donaldson)
Zitat von gwenhyfath Also wenn ich das richtig verstehe, dann habe ich praktisch durch dieses "auf-die-Seite-legen" alles nur noch verschlimmert und das war praktisch das Schlüsselerlebnis, weshalb Jay nun keine für mich erkennbaren Warnzeichen mehr gegenüber anderen Hunden gibt?
Soweit, das Schlüsselerlebnis zu nennen, würde ich nicht gehen. Ich kann zuwenig beurteilen, wie seine sonstigen Vorerfahrungen sind. Du hast einfach an einer Spirale gedreht, die auf hundlicher Logik basiert. Es ist einfach so, daß Hunde ein Verhalten normalerweise nicht "aus Jux und Dollerei" zeigen, sondern weil sie damit ein Ziel erreichen wollen. Haben sie keinen Erfolg, passen sie sich an und ändern ihre Herangehensweise entsprechend.
Ein Beispiel: Ein Hund hat einen Ball. Mit diesem Ball spielt er oft und gerne. Er hat die Erfahrung gemacht, daß er, wenn der Ball da ist, rennen kann, jagen kann und etwas mit seinem Menschen zusammen tun kann.
Kommt jetzt ein anderer Hund und will diesen Ball haben, macht der vierbeinige Ballbesitzer im Kopf eine Kosten-/Nutzen-Rechnung auf und zwar eine ziemlich differenzierte.
Zum einen kalkuliert er die Bedeutung dieser spezifischen Ressource durch. Er fragt sich: Gibt es nur diesen einen Ball, der das leistet, was ich haben will, oder gibt es genug Bälle für alle? Wenn es nur einen Ball gibt, wird er die Notwendigkeit, diesen gegen andere zu verteidigen, höher einschätzen, als wenn um ihn rum 20 Bälle liegen, von denen er sich schlicht einen holen könnte, wenn der Artgenosse den, um den es gerade konkret geht, unbedingt haben will.
Zum zweiten überlegt er sich, welches Risiko er eingeht, wenn er sich auf eine Auseinandersetzung einläßt. Er fragt sich, wie wahrscheinlich es ist, daß er ohne großen Aufwand in der Lage sein wird, den Ball für sich zu reklamieren. Denkt er, daß der andere schon auf ein Knurren aufgeben wird, wird er knurren, denkt er, daß er eine Keilerei gewinnen muß, bevor der andere sich verpieselt, wird er sich genauer überlegen, ob der Ball wirklich so wichtig ist, um die Gefahr, verletzt zu werden, in Kauf zu nehmen, wobei hier wieder die Antworten auf den ersten Teil eine Rolle spielen, die auf die Frage nach der Verfügbarkeit der Ressource, um die es geht, nämlich.
Nehmen wir jetzt mal an, daß unser Hund weiß, daß es nur einen Ball gibt und dieser ihm wichtig genug ist, um aggressives Verhalten an den Tag zu legen. Was tut er dann?
Im Normalfall wird er den Ball nehmen und wegtragen. Kapiert der andere das und verfolgt ihn nicht, sagt unser Hund: Prima, das hat geklappt, so mache ich das wieder.
Kapiert der andere das nicht und heftet sich an seine Fersen, wird er den Ball ablegen und sich über ihm abducken, ihn mit seinem Körper verdeckend. Sagt der andere nun "aha, dem ist das Ding wichtig, mir nicht so", bleibt unser Balljunkie bei dieser Taktik. Bringt sie ihm nichts, fängt er an, zu knurren.
Knurrt der andere dann auch und versucht weiter, an den Ball zu kommen, muß unser Vierbeiner "nachlegen". Er wird die Zähne fletschen, und wenn das auch nichts bringt, in die Luft schnappen, ist auch das erfolglos, wird er den anderen angreifen, zunächst gehemmt beschädigend und im schlimmsten Fall wirklich beschädigend.
Das Ganze nennt man aggressives Ritual, wobei beide Parteien wissen, wie es abläuft und was welche Handlung zu bedeuten hat.
Nur, daß sie leider oft die Rechnung ohne den (menschlichen) Wirt gemacht haben. Wir haben nämlich eine ganze Menge Einflußmöglichkeiten. Erstens können wir unserem Hund helfen. Wir sehen, daß das Abducken ihm nicht hilft, wir wollen nicht, daß er "nachlegen" muß, also nehmen WIR den Ball und stecken ihn ein oder geben ihn unserem Hund zurück, während wir den anderen von ihm fernhalten oder wegbringen. So verhindern wir, daß die Spirale sich hochdreht und unser Hund lernen muß, daß nur starke Aggression ihm hilft, zu behalten, was ihm wichtig ist.
Denn genau hier liegt ein wichtiger Punkt des Lernens und eine Erklärung dafür, daß manche Hunde scheinbar oder wirklich "digital", also ohne erkennbare Vorwarnung, schnappen oder beißen. Ein Hund, der oft genug die Erfahrung macht, daß die ersten Stufen des Rituals zu nichts führen außer dazu, daß der andere genug Zeit hat, seine eigene Strategie zu entwickeln, wird sie schlicht überspringen, um den Gegner zuvorzukommen. Das heißt, bei der nächsten Auseinandersetzung um einen Ball wird er diesen nicht mehr wegschleppen oder sich über ihm abducken, sondern gleich knurren oder gar schnappen, bevor es der andere tun kann.
Eine weitere Einflußmöglichkeit unsererseits liegt darin, zumindest den Versuch zu machen, das natürliche Verhalten unserer Hunde möglich zu machen. Will mein Hund den Ball wegschleppen, kann es aber nicht, weil er an der Leine hängt, MUSS er diese Stufe des Rituals überspringen. Will mein Hund sich abducken und nehme ich den Ball hoch, werfe ihn und rennt der andere hinterher und kriegt ihn, weil ich glaube, daß die Hundis doch gerade so schön spielen, wird mein Vierbeiner über kurz oder lang dafür sorgen, daß ich diesem Irrtum nicht mehr aufsitze, indem er entweder mich oder den anderen Hund beißt, bevor ich werfen oder der dem Ball hinterherrennen kann.
Nun muß man wissen, daß Hunde negative Verknüpfungen schneller generalisieren als positive. Kriegt ein Hund einmal einen Stromschlag, während direkt neben ihm ein Kind läuft, kann es durchaus passieren, daß er in der Folge Probleme mit Kindern hat. Kriegt er einmal ein Leckerchen, wenn ein Kind an seiner Seite ist, wird er nicht zwingend sofort hungrig losspeicheln, nur weil es da ist.
Was bedeutet: Es stimmt sicher, daß Jay die Erfahrung des auf die Seite Drehens und des zwangsweise Beschnüffeltwerdens leichter zu einem von Dir unerwünschten Verhalten führt als das "Schönfüttern" von Artgenossen. Trotzdem wird sie nicht alleine den Ausschlag dafür geben, daß er sich anderen Hunden gegenüber verhält, wie er sich verhält.
Das Problem ist schlicht, wie fast alles in der Welt, viel komplexer, unsere Hunde sind ausgefeilt sozial kommunizierende Wesen, die sich jedoch in einer Sprache verständigen, die für uns Menschen nun einmal eine Fremdsprache ist.
Ein hundliches Verhaltensmuster setzt sich grundlegend, da sind sich alle Säugetiere gleich, aus zwei grundlegenden Säulen zusammen. Das eine ist die Veranlagung, das, was in den Genen "programmiert" ist. Das andere sind die Erfahrungen, die ein Hund im Laufe seines Lebens sammelt und auf die er höchst individuell reagiert. Was heißt, daß Hund A die gleiche Erfahrung machen kann wie Hund B, daraus aber noch lange nicht die gleiche Verhaltensschlüsse ziehen wird wie sein Artgenosse.
Die gute Nachricht aber ist: Im Gegensatz zu uns sind Hunde in der Lage, neue Verhaltensmuster zu erwerben, ohne auf einer freudianischen oder sonstwie therapeutischen Couch zwischenlanden zu müssen. Wir machen zwar auch Kosten-Nutzen-Analysen für unser Verhalten, sind aber im Gegensatz zu unseren Vierbeinern von der Fähigkeit (oder eben auch dem Zwang) gepeinigt, bewußt zu reflektieren und, als ob das nicht schlimm genug wäre, ethische und moralische Maßstäbe anzulegen. Für uns spielen traumatische Erlebnisse eine weit hemmendere Rolle als für unsere Hunde, denen es in der Regel ausreicht, neue Relais zu schalten, die neue Etiketten für Reize vergeben sowie von uns Alternativen zu alten Strategien gezeigt zu bekommen.
Das heißt: Es ist egal, was Jay in Polen erlebt hat. Im Hier und Jetzt hast Du die Chance, sein Verhalten zu verändern. Die Frage danach, warum er sich Artgenossen gegenüber so aufführt oder ob oder welches Schema es gibt, ist letztlich irrelevant. Wenn Du ihm Sicherheit gibst und Verantwortung abnimmst, ist es egal, ob er vorher Rüden, Hündinnen, Unkastrierte, Kastrierte, Kleine oder Große angezickt hat, Du mußt sein Schema nicht kennen, um via Gegenkonditionierung und Aufbau von Alternativen zur Aggression Einfluß zu nehmen.
Da ich aber weiß, daß genau das, was eigentlich erleichternd wirken könnte, für uns Menschen keine Erleichterung ist, weil wir unbedingt alles erklären und verstehen müssen, doch ein kleiner Ansatz der Erklärung.
Zitat Jetzt aber noch eine Sache: Ich habe bisher nicht herausgefunden, ob es nun NUR an Rüden liegt oder nicht, denn er hat ja in der Hundeschule auch auf eine Hündin aggressiv reagiert. Auch ein bestimmtes "Hundeschema" konnte ich noch nicht herausfinden.
Die Wahrscheinlichkeit, daß Jays Verhalten in erster Linie "Konkurrenten" betrifft, ist trotzdem relativ hoch. Das heißt ja nicht, daß auch Hündinnen sich ihm gegenüber aus seiner Sicht aggressiv zeigen können. Nicht umsonst haben viele Hunde Schwierigkeiten mit Hundetypen wie z.B. Bordern, weil diese generell eher dazu neigen, sich abgeduckt und fixierend anzuschleichen. Das steht schlicht so in ihrer Stellenbeschreibung, es ist Teil des Hüterituals, das eigentlich nur eine verkürzte Jagdsequenz darstellt.
Bei Ben war es so, daß er anfangs JEDEN Hund attackiert. Erst, als der "Angst- und dauernd ums Überleben kämpfen müssen-Panzer" sich langsam abschälte, wurde das Muster deutlicher, und am Ende stand, daß er in der Hauptsache große unkastrierte Rüden als Bedrohung empfand, während kleine Rüden auch gerne mal unkastriert sein durften und trotzdem unbehelligt blieben. Hingegen wurden Hündinnen, die drohfixierten durchaus angegangen, obwohl er insgesamt der Damenwelt gegenüber wesentlich duldsamer war als mit Blick auf das eigene Geschlecht. Was für ihn neben Geschlecht und Sexualstatus nämlich immer eine zentrale Rolle spielte, war schlicht das Verhalten seines Gegenübers, das er nicht ertragen konnte, wenn er es provokant oder bedrohlich fand.
Ich kann mir vorstellen, daß das bei Jay ähnlich ist, wobei bei ihm ein weiterer Aspekt eine Rolle spielen kann, nämlich das Interesse des jeweils anderen an SEINEM Sexualstatus. Eine Hündin, die diesen erkunden will, kann von einem unsicheren Rüden durchaus als bedrohlich empfunden werden, während eine Hündin, die sich vorsichtig oder gar nicht nähert, keine Gefahr darstellen muß, auch wenn sie auf Abstand bleibend kläfft. Ein Rüde hingegen, der sich eher ängstlich zeigt, aber ebenso unkastriert ist wie er, kann trotz eines Beschwichtigens Opfer aggressiven Erhaltens werden, weil er einfach riecht, wie er nun einmal riecht. Soll heißen: Unsere Hunde senden Gerüche und Signale, die für uns keine Bedeutung haben, für sie jedoch in Windeseile Informationen transportieren, die dann in Sekundenbruchteilen ihr Verhalten bestimmen und unaufhaltsam ablaufen lassen.
Zitat Wie kann ich das jetzt interpretieren? Habe ich mich in dieser Situation richtig verhalten
Ich würde es gar nicht interpretieren. Ich glaube, es ist wichtig, daß wir genau damit aufhören und statt dessen lieber beobachten, wobei wir die menschliche Brille wirklich unbedingt zur Seite legen sollten. Ich würde sagen: Jay fand diesen Hund nicht bedrohlich. Warum? Keine Ahnung.
Ob Du Dich richtig verhalten hast, ist aus der Entfernung schwer zu beurteilen. Ich weiß nicht, was genau Du gemacht hast und was Du meinst, wenn Du sagst, Du hattest das Gefühl, Jay hätte den Kleinen aber doch "fressen" wollen, wenn er die Chance gehabt hätte. Ich fürchte, was Du tatsächlich richtig oder falsch machst, kann Dir seriös nur jemand sagen, der sich mit hundlichem Ausdrucksverhalten auskennt, der bereit ist, genau das zu sehen und nicht Behauptungen aufzustellen, die reine Spekulation sind und der Euch in einer konkreten Situation wirklich erlebt.
Zitat Wie erreiche ich denn sonst noch eine Gegenkonditionierung?
Was meinst Du mit "sonst noch"? Bisher lenkst Du ihn ab. Das hat mit Gegenkonditionierung noch nichts zu tun. Gegenkonditionierung bedeutet, daß Du einen Reiz (hier: Artgenossen), der bisher auf eine bestimmte Weise besetzt war (hier: Jay hat Probleme mit anderen Hunden), neu verbindest, das heißt, daß Du versuchst, Jay beizubringen, daß Artgenossen eine feine Sache sind. Der Prozeß verläuft, ganz grob und ohne Anspruch auf Vollständigkeit, in etwa so ab: Bisher sah Jay den anderen Hund und zeigte aggressives Verhalten. Du bringst Jay jetzt bei, daß immer, wenn der andere Hund auftaucht und er das Verhalten zeigt, trotzdem etwas Gutes passiert, zum Beispiel, daß er tolle Leckerchen kriegt, wann immer er den Reiz anschaut. Dabei ist zunächst einmal egal, was Jay in diesem Moment tut, auch wenn er pöbelt, passiert das Tolle trotzdem. Irgendwann wird Jay den Artgenossen sehen und auf das Tolle warten. Er hat gelernt, daß es schließlich immer passiert, wenn andere Hunde in Sicht sind. Mittelfristig wird er sich dann freuen, wenn er andere Vierbeiner erspäht, schließlich weiß er ja absolut sicher, daß nun etwas Tolles stattfindet. Am Ende steht im Idealfall das Ziel, daß er die anderen Hunde toll findet, sie sind neu, nämlich mit diesem Tollen, in seinem Unterbewußtsein "etikettiert".
So, nun hast Du garantiert gemerkt, daß das hier nicht das Forum der kurzen Beiträge ist. :-)))
Viele Grüße Barbara mit Ritter Parcifal, Prince Maddox und Sir Lancelot sowie in ewiger Verbundenheit mit Malibub Athos, Seelenbub Ben, Spitzbub Ilias, Lausbub Seppl und 'dame de coeur' Lupa (G'lupa de la Noire Alliance)
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"Just a generation ago if you went near a dog when he was eating and the dog growled, somebody would say, 'Don't go near the dog when he's eating!, what are you crazy?' Now the dog gets euthanized. Back then, dogs were allowed to say, NO. Dogs are not allowed to say no anymore...They can't get freaked out, they can't be afraid, they can never signal 'I'd rather not.' We don't have any kind of nuance with regard to dogs expressing that they are uncomfortable, afraid, angry, or in pain, worried, or upset. If the dog is anything other than completely sunny and goofy every second, he goes from a nice dog to an 'AGGRESSIVE' dog." (Jean Donaldson)
Meine Nela ist jetzt 6 Monate bei mir. Wir können immer noch nicht richtig spazieren gehen, ihre Angst vor anderen Hunden war die ersten 2 Monate so schlimm, dass ich dachte, sie stirbt mir vor Schreck....
Ich denke mal du kannst fast davon ausgehen, dass dein Jay nie eine Bezugsperson hatte.....
In Polen werden viele Hunde als Kettenhunde gehalten. Auch die kleinen Hunde. Oder in dunklen Verschlägen gehalten. Meist auch noch ohne Kontakt zu Artgenossen.
Wenn man sich vorstellt, was der Hund vielleicht durchgemacht hat, dann kann man besser Verständnis aufbringen.
Dein Hund ist erst so kurze Zeit bei dir....
Natürlich ist es nicht schön, dass er direkt so massiv gegen andere Hunde vorgeht, aber ihr könnt mit Training und Zeit sicher eine Menge dafür tun, dass es besser wird!
Zitat von Fee ich habe ja auch eine Hündin aus Polen. In Polen werden viele Hunde als Kettenhunde gehalten. Auch die kleinen Hunde. Oder in dunklen Verschlägen gehalten. Meist auch noch ohne Kontakt zu Artgenossen.
Das scheint ja bei Hunden aus Polen sehr oft vorzukommen, dass sie extrem unsicher sind. Es wurde uns auch gesagt, dass die Hunde aus dem Tierheim erst einmal extrem unsicher und ängstlich sind weil sie teilweise ja wirklich noch nichts anderes kennengelernt haben.
Bei Tola hat es z.B. auch sehr lange gedauert bis sie meinen Mann Frank einigermaßen akzeptiert hat. Es wird aber alles immer besser. Eine Freundin konnte sich vor ein paar Tagen schon frei in der Wohnung bewegen, ohne dass sie sich aufregte. Bei anderen Hunden ist es bei ihr auch noch so, dass sie die Begegnung stresst. Als wir aber eine Weile mit Ben und Seppi gelaufen sind, wurde sie mit der Zeit aber immer weniger aufgeregt. Bei ihr habe ich zum Glück ja nicht das Problem, dass sie sich verbeissen will ( das besorgt ja schon leider Lucky ). Sie gibt nur reichlich heiße Luft ab.
Gezieltes Training mit anderen Hunden wäre auf jeden Fall gut.